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KlimaRZ Ausgabe 11-12/2023

Nachhaltigkeit und Digitalisierung durch Recht: Kann die Twin-Transformation gelingen?

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Seitenanzahl: 26
ISSN: 2748-1999
Ausgabe: 11-12
Jahrgang: 2023
Erscheinungstermin: 15. November 2023
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Nachhaltigkeit und Digitalisierung durch Recht: Kann die Twin-Transformation gelingen?

Digitalisierung und Nachhaltigkeit, hier insb. der Klimawandel, sind Jahrhundertthemen, sie verändern
unsere Gesellschaft schon jetzt grundlegend und werden in den kommenden Jahren weiter erheblich
an Bedeutung gewinnen. Beide Themenfelder stehen prominent auf den Agenden der nationalen und
des europäischen Gesetzgebers, zu beiden existieren umfangreiche politische Programme. Die Bundesregierung setzt beide Themen ganz oben auf die Tagesordnung und hat sowohl eine Digitalisierungsals auch eine Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt, die beide regelmäßig aktualisiert werden. Die EU-Kommission präsentierte bereits 2015 ihre Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa. Auch die Nachhaltigkeit hat Priorität: Aufbauend auf der Agenda 2030 der Vereinten Nationen verfolgt die EU hier ein ganzheitliches Nachhaltigkeitskonzept im Lichte der 17 Sustainability Goals (SDGs); der Europäische Grüne Deal aus dem Jahr 2019 ist die Blaupause für zahlreiche Rechtsetzungsprojekte. Spiegelbildlich zu den vielschichtigen politischen und gesetzgeberischen Aktivitäten beschäftigen Digitalisierung und Nachhaltigkeit auch die Wissenschaften nahezu aller Disziplinen, die Rechtswissenschaften sind hier keine Ausnahme. Gerade in der wirtschaftsrechtlichen Diskussion erfahren Nachhaltigkeit und Digitalisierung aktuell größte Aufmerksamkeit und prägen den Diskurs mit bemerkenswerter Intensität und Tiefe.


Bei all der Prominenz und der praktischen Bedeutung, die beide transformierenden Phänomene mit
sich bringen, überrascht es besonders, dass die beiden Leitdiskurse bislang weitgehend unverbunden
nebeneinanderstehen. In den Rechtswissenschaften haben sich hier zwei nahezu separate Communities
gebildet, die so gut wie keine Berührungspunkte aufweisen. Für einen echten Erfolg auf beiden
transformativen Gebieten sind diese aber i.S. einer „Twin-Transformation“ zusammenzudenken. Soll die
Nachhaltigkeitstransformation von Wirtschaft und Gesellschaft gelingen, so kommt sie nicht ohne die
Mittel der Digitalisierung aus, denn diese hat insoweit eine wichtige ermöglichende Funktion. Und umgekehrt
kann Digitalisierung nur dann nachhaltig und langfristig wirksam sein, wenn sie ökologische
und soziale Belange mitdenkt. Die Prinzipien der Nachhaltigkeit setzen also der Digitalisierung Zielvorgaben
und modellieren ihr einen Gestaltungsrahmen.

Wenn die Verbindung von Nachhaltigkeit und Digitalisierung als Zwillingstransformation damit nicht nur in der Lage ist, großes Potenzial zu erschließen, sondern auch Voraussetzung für das Gelingen der Transformation der Gesamtgesellschaft überhaupt ist, so gilt dies ganz besonders mit Blick auf Unternehmen als die zentralen Akteure auf nationalen und transnationalen Märkten.


Die wechselseitige Ermöglichungs- und Rahmenfunktion lässt sich durch zahlreiche aktuelle Beispiele
aus dem unternehmerischen Alltag belegen. Die Ermöglichungsfunktion der Digitalisierung zeigt sich
derzeit prominent bei der praktischen Umsetzung rechtlicher Vorgaben zur Beseitigung von Informationsasymmetrien: Für Verbraucher, Investoren, aber auch für die öffentliche Hand stellt sich heute verstärkt die Frage nach der Echtheit der Angaben über als nachhaltig beworbene Produkte oder Dienstleistungen, umgekehrt unterliegen Unternehmen hier immer dichteren Berichtspflichten. Diese finden
sich vor allem im Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) oder der EU-Richtlinie über nichtfinanzielle
Berichterstattung (Letztere wurde unlängst ersetzt durch die EU-Richtlinie über Nachhaltigkeitsbericht-
KlimaRZ 11-12/2023 264 erstattung, die die Berichtspflichten erheblich ausweitet und intensiviert und die jetzt vom nationalen Gesetzgeber umzusetzen ist). Die zahlreichen Angaben führen jedoch in der Praxis nicht selten zu einem Informations-Overload, zudem sind sie nicht immer ohne Weiteres verfügbar und vergleichbar. Auch gilt es, Greenwashing wirksam zu vermeiden. Digitale Zertifikate können hier Abhilfe schaffen, da sie zum einen nutzerfreundliche binäre Information liefern, zum anderen besonders fälschungssicher sind, etwa indem sie auf ein Blockchain-Netzwerk aufgesetzt werden. Die geplante Europäische Ökodesign-Verordnung, die sich gegenwärtig im Trilogverfahren befindet, greift diese Vorteile auf und will mit der Einführung eines digitalen Produktpasses Produktmärkte grundlegend umgestalten. Dieser Produktpass soll – frühestens ab 2026 durch einen QR-Code auf dem jeweiligen Produkt – leicht zugänglich sein und zugunsten von Flexibilität und Innovation dezentral gespeichert und gepflegt werden. Interessierte erhalten so mittels eines einfachen Scans des Produktpasses mit ihrem Mobiltelefon in Sekundenschnelle allgemeine Informationen über das gewünschte Produkt wie dessen Kennung, Herstellungsbetrieb und Rohstoffquelle, aber auch den Carbon-Footprint und individuelle Recyclinganweisungen. Für Enforcement-Zwecke plant die Kommission flankierend die Einrichtung eines Produktpass-Registers. Neben einem effizienteren Informationsfluss zwischen Unternehmen und Verbrauchern, aber auch in der Lieferkette sowie im Verhältnis zu Behörden erhofft sich die Kommission dadurch auch Vorteile bei Überwachung und Durchsetzung nachhaltigkeitsbezogener Regelungen.


Auf Unternehmensseite bieten digitale Lösungen eine entscheidende Hilfestellung bei der Implementierung
des Risikomanagements, zu der große Gesellschaften neuerdings auf Grundlage der nationalen
und demnächst auch der europäischen Lieferkettenregulierung verpflichtet sind. Das deutsche LkSG
und der Vorschlag für eine EU-Richtlinie über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf
Nachhaltigkeit (sog. CSDDD) verlangen von Unternehmen, Risiken für Umweltbelange und Menschenrechte
in ihren Lieferketten zu identifizieren und diese anschließend zu beseitigen bzw. abzumildern.
Angesichts der oft undurchsichtigen Lieferbeziehungen, die sich oft über zahlreiche Unternehmen und
Staaten erstrecken, ist dies eine komplizierte Aufgabe. Daher überrascht es nicht, dass eine umfragebasierte
Studie des Bundesverbands für Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) belegt, dass sich
im Herbst 2022 bereits 75% der befragten Unternehmen mit dem Einsatz von Technologie zur Identifizierung
von Nachhaltigkeitsrisiken in ihren Lieferketten beschäftigten, im Vorjahr waren es lediglich 37%. Auf diese Entwicklung reagieren zunehmend Anbieter wie die an der der Studie beteiligte IntegrityNext GmbH, die als cloud-basierte Plattform in der Lage ist, eine Vielzahl von Zulieferern standardisiert und automatisiert auf die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsbelangen zu überprüfen. Dass die Mittel der Digitalisierung eine zentrale Rolle dabei spielen können, mehr Nachhaltigkeit im (Wirtschafts-)Leben zu ermöglichen, ist damit offenkundig.


Die Rahmenfunktion der Nachhaltigkeit für die Digitalisierung zeigt sich angesichts der Klimakrise unmittelbar. Laut Schätzungen verursacht der Sektor der Informations- und Kommunikationstechnologie
bis zu 3,9% der weltweiten Treibhausgasemissionen. Speziell die Umweltverträglichkeit von Blockchain-
Anwendungen ist hier problematisch. Denn obwohl die Blockchain-Technologie ein erhebliches Potenzial
zum sparsamen Einsatz von Speicherkapazität birgt, bereitet der dezentrale Validierungsmechanismus
durch seine umfangreichen Rechenleistungen Probleme. Schon längst ist bekannt, dass das sog.
Proof-of-Work-Verfahren laufend ungefähr so viel Strom verbraucht wie die gesamte Republik Irland,
das heißt ca. drei Gigawatt im Zeitraum eines Jahres (je nach Validierungs-Algorithmus bestehen hier
natürlich Unterschiede). Um die Energieeffizienz von Rechenzentren als elektrische Großverbraucher
zu optimieren, sieht das im September 2023 vom Bundestag verabschiedete Energieeffizienzgesetz
(EnEfG) die Einführung einer verpflichtenden Power Usage Effectiveness (PUE) vor. Diese Kennzahl beschreibt sektorübergreifend die Energieeffizienz von Rechenzentren und setzt indirekt Vorgaben für die
Auslastung von IT-Systemen. Alle Betreiber von großen Rechenzentren sollen zudem künftig Strom aus
erneuerbaren Energien nutzen.


Doch die Rahmenfunktion der Nachhaltigkeit für die Digitalisierung betrifft auch soziale Aspekte, dies
besonders mit Blick auf die Plattformökonomie: Digitale Plattformen bieten oft prekäre Dienstleistungen
an, die als Click-, Crowd- oder Gig-Work konzipiert sind. Hier stellt sich insb. die Frage einer Scheinselbstständigkeit der vermittelten Dienstleister – die im Vereinigten Königreich mit der Einordnung etwa von Uber als Arbeitgeber der vermittelten Fahrer beantwortet wurde. Betroffen sind damit Kernfragen
des Arbeitsrechts, das auf die neuen Entwicklungen reagieren muss. Ein Kernproblem ist hier, dass
digitale Plattformen Dienstleistungen nämlich typischerweise nur als Vermittler anbieten, ohne ein Arbeitsverhältnis mit den ausführenden Personen zu begründen. Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen hat zuletzt einen Gesetzentwurf gefordert, um den Status von Erwerbstätigen über Plattformen
zu klären und Gig-, Click- und Crowdworker sozial abzusichern.


Die Liste ließe sich mit Leichtigkeit fortsetzen. Dass Nachhaltigkeit und Digitalisierung sich durch die
Ermöglichungs- und Rahmenfunktion wechselseitig beeinflussen, liegt damit auf der Hand. Die Verbin-
265 KlimaRZ 11-12/2023 dung der großen Leitdiskurse unserer Zeit gehört daher auf die Agenda auch der Rechtswissenschaft. Denn diese spielt eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, der Twin-Transformation die geeignetste rechtliche Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Prof. Dr. Anne-Christin Mittwoch,
Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Wirtschaftsrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Mitherausgeberin von KlimaRZ.

Weitere Produktinformationen

Erscheinungsweise
10 Ausgaben im Jahr
Typ Zeitschrift

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